IAMANEH Schweiz wird vom UN Trust fund To End Violence against Women unterstützt, um ein bahnbrechendes Projekt in Albanien zu realisieren. Erarbeitet wurde es von IAMANEH Schweiz zusammen mit den albanischen Partnerorganisationen Woman to Woman (WtW) und Counselling Line for Women and Girls (CLWG)sowie mit dem SwissTPH, dem Schweizerischen Tropeninstitut. Es ist ein ganzheitlich angelegtes Projekt, das besonders verletzlichen Frauen und Mädchen in ländlichen, abgelegenen Gebieten bessere Prävention vor und Betreuung nach erlebter Gewalt bietet. Die Projektleiterin von IAMANEH Schweiz, Rebeca Revenga Becedas, gibt im Gespräch mit IAMANEH Schweiz spannende Einblicke.
IAMANEH Schweiz: IAMANEH Schweiz wird zum ersten Mal vom UN Trust Fund unterstützt. Warum ist dies so aussergewöhnlich?
IAMANEH Schweiz hat zusammen mit ihren albanischen Partnerorganisationen und dem SwissTPH einen Projektantrag eingereicht. Nach einem anspruchsvollen und mehrstufigen Antragsverfahren hat der UN Trust Fund IAMANEH Schweiz und ihren Partnerorganisationen unter mehr als 1’400 Bewerbenden den Zuschlag für das Projekt erteilt – als eine von sehr wenigen Organisationen: Von den über 1'400 antragstellenden Organisationen wurden gerade mal 37 Projektanträge bewilligt. Wir sind sehr dankbar und glücklich, dass unser Projekt realisiert werden kann.
Dieses Projekt zielt darauf ab, Frauen und Mädchen in marginalisierten Gemeinschaften zu stärken, weil diese Frauen und Mädchen seit der Covid-19 Pandemie einem noch höheren Risiko von geschlechterbasierter Gewalt ausgesetzt sind.
IAMANEH Schweiz bietet gemeinsam mit ihren albanischen Partnerorganisationen Zugang zu Informationen, Wissen und Dienstleistungen im Bereich der Gewalt gegen Frauen und Mädchen, zudem psychologische Beratung, rechtliche und medizinische Dienstleistungen. Die Teams arbeiten in zehn verschiedenen Gemeinden in städtischen, ländlichen und abgelegenen Gebieten in Albanien und erreichen die Überlebenden von häuslicher Gewalt über die Expert*innen vor Ort.
Bildlegende: Roma-Siedlung in Tirana, in der unsere Partnerorganisation CLWG Workshops für Frauen zu den Themen Familienplanung und geschlechtsbasierter Gewalt durchführt.
IAMANEH Schweiz: Warum habt ihr gerade diese Zielgruppen im Blick?
Aufgrund der Lockdowns und der eingeschränkten Mobilität in den Gemeinden während der Pandemie, haben wir das Thema «Gewalt gegen Frauen und Mädchen» mit speziellem Fokus auf die am meisten marginalisierte Gruppe von Frauen und Mädchen analysiert. Es wurde klar: Diese besonders verletzlichen Menschen leiden am meisten unter der zunehmenden Gewalt während der Pandemie – und auch ausserhalb von Pandemiezeiten fallen sie durch alle Maschen der Systeme. Sie kennen die Unterstützungsangebote nicht und/oder die bestehenden Angebote erreichen die Betroffenen nicht. Genau daran wollen wir arbeiten und diese Zielgruppe mit ihren ganz spezifischen Bedürfnissen im Blick haben. Bei der Konzeption des neuen Projektes haben wir gemeinsam mit den lokalen Partnern beschlossen, dass wir uns insbesondere auf Vertreterinnen der Roma- und ägyptischen Community, ältere Frauen, Frauen mit Behinderungen und Frauen, die in ländlichen oder abgelegenen Gebieten leben, konzentrieren. Diese Zielgruppen sind per se einem erhöhten Risiko von geschlechterbasierter Gewalt ausgesetzt.
IAMANEH Schweiz: Wie stellt ihr sicher, dass ihr die Zielgruppen erreicht?
Um den Zugang zu Dienstleistungen für Überlebende von geschlechterbasierter Gewalt in diesen abgelegenen Gebieten zu verbessern, bietet unser Projekt Beratung und Überweisung durch mobile Teams an, die sich aus mindestens einer*m Psycholog*in, eine*m Sozialarbeiter*in und einer*m Community-Facilitator zusammensetzen und auf die besonderen Bedürfnisse der Überlebenden eingehen können. Die lokalen Teams arbeiten sehr eng mit den lokalen Behörden zusammen, die Zuweisungen von Gewaltopfern vornehmen: Gesundheitszentren, Sozialdienste, Schulen, Polizei usw.
Sobald die gewaltbetroffenen Frauen und/oder Mädchen identifiziert sind, werden sie unter anderem an die Dienstleistenden verwiesen, die psychosoziale und rechtliche Beratung sowie Notunterkünfte anbieten.
Bildlegende: Kinderwagen vor dem Schutzhaus für gewaltbetroffene Frauen in Shkodra
IAMANEH Schweiz: Verfügen die Dienstleistenden über die notwendigen Kapazitäten, um die zugewiesenen Klientinnen zu betreuen?
Das ist eine berechtigte Frage und genau diesem Risiko sind wir uns bewusst. Darum arbeiten die Teams daran, die Kapazitäten der lokalen Organisationen, Berater*innen, Fallmanager*innen und Gesundheitsdienstleistenden in den Bereichen Fallmanagement, Bedarfs- und Risikobewertung zu erhöhen.
Uns ist wichtig, dass nicht nur die Kapazitäten der Dienstleistungen und Behörden erhöht werden. Ein zentrales Anliegen des Projektes ist es, dass wir uns auf Gemeindeebene für Jugendliche und ethnische Minderheiten engagieren und in ländlichen/abgelegenen Gegenden gezielt Aktivitäten durchführen. Mit Sensibilisierungsaktivitäten wollen wir das Risiko von Gewalt, Stigmatisierung und Diskriminierung verringern, also auch präventiv arbeiten.
IAMANEH Schweiz: Kannst du mir konkrete Beispiele von Aktivitäten nennen, die bereits stattgefunden haben?
Unsere Teams führten in den zehn Gemeinden Treffen mit den wichtigsten lokalen Interessensvertreter*innen durch, um zu erörtern, wie sie auf Gewalt gegen Frauen und Mädchen aufmerksam machen und auf Fälle reagieren. Gemeinsam erarbeiteten, entwickelten und verteilten sie Informationsmaterial über den Zugang zu Schutzdiensten und verschiedene Arten von Beratung.
IAMANEH Schweiz: Habt ihr auch mit gewaltbetroffenen Frauen und Mädchen gearbeitet?
Ja. Zusammen mit den Vertreter*innen der Überweisungsmechanismen ermitteln die mobilen Teams Überlebende von geschlechtsbasierter Gewalt und leisten erste Hilfe und psychosoziale Unterstützung. Die Frauen und ihre Familien werden in Notunterkünften und anschliessend vorübergehenden Unterkünften untergebracht und sie erhalten sogenannte Überlebenspakete, die die wichtigsten Bedürfnisse nach Kleidung, Medikamenten, Nahrung, Spielsachen etc. decken. Durch die engere Zusammenarbeit mit den Behörden konnten bereits Frauen erreicht werden, die vorher nicht identifiziert worden wären und die somit von den Angeboten ausgeschlossen waren.
IAMANEH Schweiz: Du hast vorhin die besonders marginalisierten Gruppen angesprochen. Wie arbeitet ihr mit diesen?
Wir führen gezielt Informationsveranstaltungen für Roma und ägyptische Frauen und Mädchen, für Frauen mit Behinderungen und für Frauen und Mädchen aus ländlichen Gebieten durch. Sie haben ein Recht auf Wissen und Information etwa zu den Themen Frauenrechte, Schutzdienste und Sicherheitsmassnahmen gegen Gewalt gegen Frauen.
Nebst dieser spezifischen Zielgruppe führen wir Workshops durch für junge Männer und Frauen. Wir vermitteln Wissen zu den verschiedenen Formen der Gewalt, zu sexueller Gewalt und zu Familienplanung – dies mit einem gendertransformativen Ansatz: Durch Informationen, Rollenspiele und Geschichtenerzählen entwickeln die jungen Teilnehmenden Wissen und Verständnis für positive Werte, einschliesslich der Achtung der Gleichstellung der Geschlechter, der Vielfalt und der Menschenrechte. Darüber hinaus erwerben sie Verhaltensweisen und Fähigkeiten, die zu sicheren, gesunden und positiven Beziehungen zwischen den Geschlechtern beitragen.
Bildlegende: Workshop zu Familienplanung in einer Roma-Siedlung in Tirana
IAMANEH Schweiz: Bald ist es ein Jahr her, dass wir die Projektzusage erhalten haben. Was ist in deiner persönlichen Rückschau das berührendste?
Wir hatten die Möglichkeit, mit den am stärksten ausgegrenzten Frauen zu arbeiten – mit denen, die oftmals vergessen werden. Die Fürsorge und Liebe der Teams ist unglaublich. Wir sind näher zusammengerückt. Wir haben einen Prozess des kollektiven Lernens in Gang gesetzt, indem wir unser individuelles Wissen und unsere Erfahrungen während der Einsätze austauschen. Wir profitieren von den gewonnenen Erkenntnissen und wachsen durch dieses Projekt zusammen.
Das Interview mit der auf dem Foto abgebildeten Projektleiterin Rebeca Revenga Becedas führte Rebecca Widmer Kerkhoff im Mai 2022.
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