Seit diesem Jahr arbeitet Fatoumata Sangaré als Projektverantwortliche Mali in Bamako. Im Gespräch mit Serena O. Dankwa gibt Fatoumata Einblick in ihren Lebensweg, ihre Überzeugungen und ihre Motivation, sich für die sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte der Frauen und Mädchen einzusetzen.
Du engagierst dich seit vielen Jahren für Frauenrechte. Wie hat dieser Kampf gegen die Ungleichheit der Geschlechter bei dir begonnen?
Das liegt schon sehr lange zurück, als ich ungefähr vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war. Meine jüngere Schwester und ich begleiteten meine Mutter ins Dorf, weil wir dachten, wir würden unsere Grossmutter besuchen. Aber in Wirklichkeit ging es darum, meine Schwester beschneiden zu lassen. An diesem Tag dachte ich zunächst, dass sie zum Duschen in den Waschraum gebracht wurde, bis ich Schreie hörte. Als sie herauskam, lief sie anders als zuvor. Ich verstand es nicht. Ich stellte Fragen, aber niemand wollte mir die Wahrheit sagen. Mit der Zeit habe ich mich erkundigt. Man sagte mir, dass sie beschnitten worden war. Ich wusste nicht, was eine Beschneidung ist. Aber ich hatte verstanden, dass es etwas Traditionelles war, das den Mädchen weh tat und daher nicht unbedingt für die Gesundheit notwendig war. Schliesslich fand ich die Antwort auf einige meiner Fragen und Bedenken, als ich noch in der Mittelstufe war. Von da an entschied ich mich, Aktivistin im Kampf gegen weibliche Genitalbeschneidung zu werden. Danach interessierte ich mich auch für andere Probleme, bei denen die Rechte von Frauen verletzt werden, wie z. B. Kinderheirat.
Du bist in Bamako aufgewachsen und hast dort einen Master in qualitiativer Analyse und in politischer Ökonomie aboslviert und einen Master in Programmmanagment. Dein Engagement für Frauenrechte begann jedoch ausserhalb von Bamako. Wie kommt das?
Ja, ich bin in Bamako geboren. Ich bin die Tochter einer Lehrerin und eines Agraringenieurs, die ihre Nachbardörfer in der Region Ségou für das Studium in Bamako verliessen, wo sie sich beruflich niederliessen. So war ich in der Schule immer aktiv, wenn es darum ging, mit Freundinnen über die Beschneidung von Mädchen zu diskutieren, und nahm an Gewinnspielen zu den Frauenrechten teil, die von damaligen Feministinnen der Zivilgesellschaft organisiert wurden. An der Universität setzte ich meine Forschungen zu den Themen Beschneidung und sexuelle und reproduktive Gesundheit fort. Durch die Glücksfälle des Lebens lernte ich einen jungen Arzt kennen, den ich heiratete. Nach meinem Universitätsstudium schloss ich mich ihm in Mopti an, wo er zu dieser Zeit arbeitete. Mein Mann ermutigte mich, mich der Familie und meiner Herkunftsgemeinschaft zu stellen, in der die Beschneidung von Mädchen normal und angeblich obligatorisch ist. Dank ihm konnte ich meine Stimme als engagierte Frau gegen FGM/Beschneidung dorthin tragen, wo ich sie haben wollte, bis hin zur Förderung der Gründung eines Frauenverbands der Ehefrauen von Ärzten und Apothekern in Mopti. Über diese Vereinigung haben wir Gesprächsrunden organisiert, in den Familien Sensibilisierungsarbeit geleistet, Foren organisiert und viele andere Dinge getan, um die Abschaffung von Beschneidung und Kinderheirat zu fördern.
2011 begannst du bei der NGO Association Malienne pour le Suivi et l’Orientation des pratiques traditionnelles (AMSOPT) in Kayes, einer anderen Stadt, zu arbeiten. Was war eure Vision und was war deine Aufgabe?
In Kayes wurde ich zu einer echten Frauenrechtsaktivistin und -kämpferin. AMSOPT war eine der ersten NGOs, die es wagten, öffentlich gegen die weibliche Genitalbeschneidung zu arbeiten, als die 1990er Jahre anbrachen. Die Vision war wirklich, an der Emanzipation der Frau mitzuwirken, um die Menschenrechte, das Recht auf Gesundheit und das Recht auf Sexualität zu erlangen. Als Projektleiterin und Koordinatorin war ich sehr nah an den vulnerablen Gemeinschaften, die allen Formen von geschlechtsspezifischer Gewalt ausgesetzt waren. AMSOPT hat mir die Möglichkeit gegeben, Überlebende aller Formen von Gewalt gegen Frauen/Mädchen dabei zu unterstützen, sich selbst zu behaupten, ihre Rechte einzufordern und ihre Sicherheit zu stärken. Ausserdem konnte ich viele Verwaltungs-, Gemeinde- und Dorfbehörden des Gesundheitsbezirks Kayes dazu bewegen, sich für den Kampf gegen Gewalt gegen Frauen, insbesondere die weibliche Genitalbeschneidung, einzusetzen.
Was war eine der grössten Herausforderungen und wie seid ihr dabei vorgegangen ?
In unserer malischen Gesellschaft haben die Männer das Sagen und die Gesellschaft ist so aufgebaut, dass Frauen Angst haben, sich zu Fragen zu äussern, die sie selbst oder gar die gesamte Gesellschaft betreffen. Viele Männer sagen, wenn sie den Frauen mehr Entscheidungsgewalt geben oder ihre Rechte fördern, werden sie sich für gleichberechtigt halten und ihre (von der Gesellschaft zugewiesene) Rolle als Frau in der Familie nicht mehr wahrnehmen, und es wird Anarchie in der Gesellschaft herrschen.
Mit unseren Projekten haben wir viel daran gearbeitet, die Forderungen der Frauen zu stärken. Dies drückte sich folgendermassen aus: Die Frauen gaben sich selbst Geld, damit sie Aktivitäten und Gespräche organisieren konnten, und wir beobachteten und begleiteten sie. Durch die Gespräche brachten wir sie dazu, die Probleme zu identifizieren, mit denen sie konfrontiert sind, und die Rechte zu definieren, die sie ebenfalls benötigen. Schliesslich schulten wir sie in ihren Menschenrechten und in weiblichem Leadership. Das hat bei vielen Gemeinden funktioniert. An einem bestimmten Punkt gingen die Frauen zu den Männern, um ihre Rechte einzufordern. So brachten sie gemeinsam ihre Entscheidungsträger dazu, die Praxis von FGM/Beschneidung und Kinderheirat zu verbieten und ihre Töchter in der Schule zu belassen. Das ist also etwas, das wir weiterverfolgen wollen, Frauen dazu zu bringen, ihren Platz in der Gesellschaft einzufordern und ihn zu schätzen, und nicht die Männer dazu zu bringen, ihnen irgendeinen Platz zuzuweisen. Frauen müssen ihren persönlichen und kollektiven Bestrebungen Gehör verschaffen, damit sie respektiert und vor jeglicher Form von Gewalt gegen sie geschützt werden.
Du bist neben deiner NGO-Arbeit auch Mutter von vier Kindern, eines davon adoptiert, und du bist praktizierende Muslimin. Vor wenigen Jahren hast du dich dafür entschieden, ein Kopftuch zu tragen. In der Schweiz werden Feminismus und Islam oft als Widerspruch dargestellt, weil die Leute vergessen, dass es auch einen islamischen Feminismus gibt. Bbetrachtest du dich als Feministin?
Ja, ich betrachte mich als Feministin. Ich war schon Feministin, bevor ich das Kopftuch anlegte. Ich habe mich persönlich entschieden, mich zu verschleiern, ohne Druck oder Zwang von irgendjemandem, weder von religiösen Menschen, noch von meinen Eltern oder meinem Ehemann. Übrigens war mein Mann nicht damit einverstanden, als ich die Entscheidung traf, mich zu verschleiern. Als mein Mann mich davon abhalten wollte, habe ich ihn wissen lassen, dass einige Dinge in meinem Leben persönlich sind, niemand entscheidet darüber, in Wirklichkeit bin ich es, die entscheidet.
Es stimmt, dass ich eine gläubige und praktizierende Muslimin bin, aber ich bin weder eine religiöse Extremistin noch eine 'Koranwissenschaftlerin': Das bedeutet, dass ich den Koran in seiner Tiefe nicht kenne, sondern ihn nur lerne. Aber ich sage es in bestimmten Situationen, zum Beispiel bei Konferenzen über Frauenrechte, dass es eine Sure gibt, die ausschliesslich im Namen der Frauen herabgesandt wurde. In Anbetracht dieser Sure habe ich mir gesagt, dass Gott uns in seiner Barmherzigkeit zeigt, dass die Frau für ihn wichtig ist. Die Achtung vieler ihrer Rechte wird in der Sure erwähnt, aber fast alle werden vom Mann verletzt, und die Religiösen sprechen nicht darüber. Vor religiösen Führern war ich mir nie zu schade, ihnen zu sagen, dass ich mich für eine gute Gläubige halte, die Gott sehr nahe steht, und dass ich alle meine religiösen Pflichten erfülle. Ich sage Nein zur Beschneidung und zur Kinderehe und bezeuge, dass sie keine religiöse Pflicht sind. Ich konfrontiere die religiösen Führer sogar damit, dass sie mir die Worte Gottes zeigen sollen, die das Gegenteil besagen.
Es ist neu, dass eine Programmverantwortliche von IAMANEH nicht in der Schweiz, sondern vor Ort arbeitet, und dass sie selbst aus dem Land stammt, in dem sie tätig ist. Wenn du wählen könntest, was das Wichtigste ist und was du bei IAMANEH anregen möchtest?
Trotz der unsicheren Lage in Mali, der soziopolitischen und wirtschaftlichen Krise und des hohen Armutsniveaus denke ich, dass IAMANEH seine Partnerschaft mit malischen Organisationen in Menschenrechtsfragen, Fragen der sexuellen Gesundheit, aber insbesondere in Fragen der Geschlechterungleichheit weiter ausbauen muss. Ich denke, dass die Probleme, mit denen Mali konfrontiert ist, die Anfälligkeit der Ärmsten, insbesondere Frauen und Kinder, erhöht haben. Die Bevölkerung ist entmutigt und traumatisiert angesichts der zahlreichen Krisen und der Schwäche des Staates, diese Situation zu bewältigen. Daher müssen wir da sein, um die Unterstützung zu intensivieren. Es ist durch Projekte und Ideen möglich, dass sich fragile Gemeinschaften weiterentwickeln können.
Das Gespräch führte Serena O. Dankwa mit Fatoumata Sangaré im Juni 2022.