Ich habe auf den ersten Blick keine Anzeichen von Unsicherheit wahrgenommen. Allerdings ist dies ein oberflächlicher Eindruck: Gewaltsame Übergriffe sind sehr häufig. Kurz vor meiner Abreise war es im Norden der Region Segou, in der IAMANEH zwei Projekte unterstützt, zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen zwei Dörfern gekommen, durch welche 20 Menschen ihr Leben verloren haben. Gewalttätigkeiten wie diese sind nicht in jedem Fall terroristisch motiviert. Und dennoch stehen sie im Zusammenhang mit der Krise. Insgesamt zeigen die Analysen, dass sich diese Art von Attacken immer weiter ins Zentrum des Landes ausdehnen. Auch individuelle Übergriffe in der Hauptstadt Bamako haben stark zugenommen.
Aber nicht nur die Sicherheitssituation gibt Grund zur Beunruhigung. Auch was die Tendenzen in Bezug auf Frauenrechte angeht, ist die Situation beunruhigend. In vielen Gesprächen während meiner Reise kam immer wieder zum Ausdruck, dass sich das Land in einer Regression befindet, was die Anerkennung und den Schutz von Frauenrechten angeht. Fundamentalistisches, frauenfeindliches Gedankengut findet neue Anhänger in der Bevölkerung. So scheint zum Beispiel die Verheiratung junger Frauen unter 18 Jahren auch in Bamako wieder öfter praktiziert zu werden. Aber es war insbesondere das Thema der weiblichen Beschneidung, das quasi omnipräsent war bei allen Treffen. Das hat mir den Eindruck vermittelt, dass die Thematik in Mali wieder verstärkt Aktualität besitzt.
Es ist richtig, dass die Fortschritte in Bezug auf die Beendigung der Praxis nur moderat ausfallen. Traditionalistisches, patriarchalisches Gedankengut ist sehr tief in der malischen Gesellschaft verankert, insbesondere bei der älteren Generation. Und auch der soziale Druck ist noch immer sehr stark: Eine nicht-beschnittene Frau und ihre Familie sind einer enormen Stigmatisierung ausgesetzt. Trotzdem konnten durch die Anti-Beschneidungsarbeit der letzten Jahrzehnte wichtige Erfolge erzielt werden. Hunderte von Dörfern haben sich offiziell zur Beendigung dieser Praktik bekannt. Neben Absichtserklärungen geht es vor allem um tiefgreifende Bewusstseinsveränderung in der Bevölkerung und um die Veränderung sozialer Normen in Bezug auf den Wert und die Stellung der Frau sowie die Anerkennung und den Respekt grundlegender Rechte von Frauen. Leider ist das Engagement der malischen Regierung sehr schwach, wenn es um die Umsetzung solcher Werte geht.
In Mali liegt seit vielen Jahren ein Gesetzesvorschlag zum Verbot der weiblichen Beschneidung vor, der jedoch keine wirklichen Fortschritte macht – trotz aller Lobbying-Bemühungen der Zivilgesellschaft, darunter auch Partnerorganisationen von IAMANEH. Dieses mangelnde Engagement der malischen Regierung in Bezug auf den Schutz der physischen Integrität von Frauen steht in diametralem Gegensatz zum Engagement, zu dem sich der malische Staat durch die Ratifizierung verschiedener internationaler Verträge und Vereinbarungen bekannt hat. Sicher, ein Verbot führt nicht dazu, dass Beschneidung plötzlich nicht mehr praktiziert wird, aber es ist ein wichtiges Zeichen an die Bevölkerung. In vielen Ländern hat ein solches Gesetz einen Wendepunkt in der Verbreitung der Praxis eingeleitet. Burkina Faso zum Beispiel hat im Jahr 1996 die weibliche Beschneidung verboten. Damit sank die Anzahl neuer Beschneidungsfälle signifikant.
Der Einfluss des Hohen Islamischen Rats, der offiziellen Vertretung und spirituellen Instanz der Muslime in Mali, spielt dabei eine wesentliche Rolle. Erst kürzlich hat sich sein Präsident eindeutig gegen ein Verbot weiblicher Genitalbeschneidung gestellt. Statt sich klar gegen solch traditionalistisches, frauenfeindliches Gedankengut zu positionieren, hat die Regierung beschwichtigt und klein beigegeben. Die malische Regierung müsste hier klar Farbe bekennen.
In Anbetracht der politischen Lähmung und der traditionalistischen Tendenzen im Land ist es umso wichtiger, die zivilgesellschaftlichen Akteure zu stärken und in ihrer Arbeit für Frauenrechte zu unterstützen. Dies tut IAMANEH durch die Unterstützung von lokalen Partnern, die sich für Frauenrechte und gegen weibliche Beschneidung engagieren. Ebenso wichtig ist es, Mütter zu stärken. Starke Mütter können sich gegen den sozialen Druck durchsetzen. In allen unseren Projekten setzen wir uns dafür ein, dass Frauen mehr Handlungsspielraum und Rechte erhalten und diese auch selbstbestimmt umsetzen können.
Auch Männer müssen gestärkt werden, sich aktiv gegen die Praxis einzusetzen und sie nicht einfach als Sache der Frauen zu akzeptieren. Ich bin seit dieser Reise mehr denn je überzeugt, dass malische Männer grosses Verantwortungsbewusstsein besitzen, was die Gesundheit ihrer Frauen und Kinder angeht. Hier müssen wir ansetzen: Sie unterstützen, den Mut aufzubringen, sich gegen schädliche traditionelle Normen zu stellen und die Stärke, dem sozialen Druck Stand zu halten. Wir arbeiten in unseren Projekten daher gezielt mit Männern, vermitteln ihnen zum Beispiel die Zusammenhänge zwischen traditionellen Verhaltensweisen und den Folgen für die Gesundheit, insbesondere von Frauen. Vielen sind diese Zusammenhänge nicht bewusst. Auch nicht, dass man eine partnerschaftliche Beziehung und die Verantwortung für Kinder anders gestalten kann, als die traditionelle Muster dies vorgeben, und dass dabei alle gewinnen.
Abgesehen von der Arbeit mit Männern, setzen wir in Mali gezielt auf Jugendliche als neue Generation von Eltern. Während frühere Projekte zum Beispiel die Schulbildung von Mädchen unterstützten, richten sich unsere Projekte heute sowohl an weibliche als auch männliche Jugendliche. Denn Gesundheit geht Frauen und Männer etwas an.
Ziel ist, der jungen Generation alle Informationen in die Hand zu geben, die es braucht, um informierte Entscheidungen zu treffen und sie erfahren zu lassen, dass Kommunikation und Dialog wesentliche Elemente für gleichberechtigtes Handeln darstellen.
Insgesamt sehen wir unsere Rolle darin, die Bevölkerung dabei zu unterstützen, selbstbestimmt zu agieren. Hierfür braucht es Informationen, Kenntnisse über Zusammenhänge und ein Verständnis für Rechte und dass man diese einfordern kann.